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Technikum29 – Nostalgie für Puristen

Wenn ein CBM 8032SK plötzlich hochmodern wirkt.
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Der „Marburger Stammtisch“ ist ein monatlich stattfindender Stammtisch für Freunde alter elektrischer und elektronischer Geräte, vorzugsweise in der Computertechnik. Seit Anfang 2011 fanden bis dato (April 2015) 49 Stammtische statt. Der 50. Stammtisch sollte daher etwas besonderes werden. Ein Museumsbesuch erschien bei unserem Hobby stimmig. Die Wahl fiel auf das Computermuseum Technikum29. Die Webseite macht neugierig und es wird sehr schnell klar: hier gibt es nicht nur Nostalgisches zu sehen, sondern auch auszuprobieren. Dass ein Stammtischteilnehmer Beziehungen zum Betreiber hat ist ein zusätzlicher Bonus. Die Sache war klar: da müssen wir hin!

Ab ins Computermuseum

Wir treffen also am 16.05.2015 mit 13 Leuten vor dem Technikum29 ein und werden gleich vom Betreiber des Computermuseum, Herr Dipl. Phys. Heribert Müller, begrüßt und herein gebeten. Obwohl die Augen weit aufgerissen sind, würde jedem auch mit geschlossenen Augen schnell klar werden: Der Raum ist mit uralter Technik bestückt. Es „riecht nach Strom“. Mechanische  Rechenmaschinen, Lochkartengeräte und nicht weniger als zehn antike Großcomputersysteme stehen dort bereit.

Zehn? Bedenkt, dass die Geräte vorzugsweise aus den 1950er und 1960er Jahren stammen und jeweils mindestens die Größe eines Wohnzimmerschrankes haben. Bei einer kleinen Einführung in die Materie durch Herrn Müller wird sehr schnell klar dass für das Museum die 1950er, 1960er und frühe 1970er-Technik ganz klar im Fokus stehen. Mit sehr großer Begeisterung erklärt er die grundsätzliche Technik der Computergenerationen und merkt, dass wir zwar moderne „µProzessoren-Junkies“, aber auch in solch antiquierter Technik nicht ganz unbelastet sind.

Computermuseum-Technikum29-Kelkheim-Taunus

Unscheinbares Gebäude, früher befand sich eine Sparkasse darin.

Historische Taschenrechner

Und dann wird es spannend! Wir gehen an die Systeme. Zuerst werden die mechanischen Rechenmaschinen aus den 1930/1940ern mit Operationen gefüttert. Die Ergebnisse werden mit hohem Schalldruck und optisch sichtbar brav und korrekt berechnet. Die Maschine vibriert dabei so stark, dass das Gestell zu schwanken beginnt. Ein kleiner aktueller LCD-Rechner liegt zum Vergleich aus. Leider hat die Mantisse nur acht Stellen. Zu wenig…

Es folgen die Computersysteme. Wir gehen sie chronologisch ab, beginnend in den frühen 1950ern. Zuerst soll eine Wurzel aus einer siebenstelligen Zahl errechnet werden. Nun, was heutzutage völlig unspektakulär ist war damals eine Sensation. Denn eigentlich ist das nicht möglich, der Computer muss Zwischenergebnisse speichern. Speicher ist in diesem Gerät aber gar nicht verfügbar. Trotzdem bekommen wir ein Ergebnis geliefert. Fein ausgedruckt. Samt sämtlicher Zwischenschritte bis zum Ergebnis. Das dient zum Debuggen falls mal „zwischendurch“ ein Fehler auftritt.

Wie aus einer anderen Dimension

Spätestens jetzt wird klar. Das hier ist eine ganz andere Welt. Die wichtigste Erkenntnis: Die Suche von Fehlern in der Elektrik, Elektronik sowie Mechanik ist nicht in Minuten oder vielleicht Stunden erledigt. Dafür braucht man Wochen, Monate, ja teilweise Jahre. Da die Unterlagen oft nicht mehr vorhanden sind heißt es durchmessen und Leiterbahnen verfolgen. Was noch weitaus schwerer wiegt, ist dass die Technik als auch die Funktionen nach und nach in Vergessenheit geraten. Denn die Menschen die sich damit auskennen werden weniger und die Ersatzteilversorgung mit Originalkomponenten wird und ist teilweise unmöglich geworden. Glücklicherweise hilft einem hin und wieder der Zufall wie uns Herr Müller ausführlich darlegt.

Was in diesem Text nicht herüberzubringen ist: Die Klangfarben der Systeme im Betrieb. Wie schon gesagt, alles ist funktionstüchtig was bei einigen Systemen weltweit einmalig ist. So etwas muss man einfach erlebt haben. Einen kleinen Eindruck eines Ende der 1960er Jahre erschienenen Systems kann man im folgenden Video sehen. Es ist sehr interessant wie schnell man sich an die Klangkulisse gewöhnt.

Der Monitor besitzt einen sogenannten Vektorbildschirm. Der Kathodenstrahl wandert also nicht wie üblich von links nach rechts und von oben nach unten über die Mattscheibe sondern wird gezielt an die zu beleuchtenden Stellen geführt. Programme werden über die zwei offen liegenden Bänder eingeladen. Das Terminal rechts dient als Eingabegerät sowie als Drucker. Das System wurde vorzugsweise für wissenschaftliche Arbeiten genutzt. Schon damals wusste man um die Wirkung von Demo-Programmen. Daher wurden einige gleich mitgeliefert und man bekam schnell einen Eindruck über die Leistungsfähigkeit des Systems.

Zurück in die Zukunft

Die Zeitreise endet nach rund 2 Stunden am Anfang der 1970er-Jahre. Nach Einführung der ersten µProzessoren und der 4. Computergeneration samt forcierter Integrationstechniken werden die Systeme sehr schnell kleiner und weniger anfällig. Und, so vermag Herr Müller nicht zu verhehlen, fallen auch viele interessante Aspekte im Betrieb und Wartung solcher Systeme weg. Wer vor Ort ist, wird sehr schnell zu verstehen was Herr Müller hiermit meint! Ganz klar kann ich für meinen Teil sagen: Das, was ich und viele meiner Generation für die 1980er-Technik empfinden, ist im Computermuseum Technikum29 ganz klar auf die 1950er/1960er projiziert. Dass hier aber zwei völlig unterschiedliche Welten aufeinandertreffen wird einem erst vor Ort bewusst. Wir sind beeindruckt.

Als wäre das noch nicht genug befinden sich in den Kellerräumen noch eine ausführliche Sammlung weiterer Rechner, darunter auch einige Analogrechner, Tonbandmaschinen, Fernsehtruhen, Videoabspieler, Plattenspieler die aus den 1930ern-1960ern stammen und natürlich größtenteils auch funktionstüchtig sind. Dort lassen wir eine lang vergangene Zeit noch mal vor dem Auge Revue passieren und den Besuch im Technikum mit vielen Gesprächen und weiteren Anekdoten langsam ausklingen

Computermuseum-Technikum29-Kelkheim-Taunus

AEG „Magnetophon“, Technik von 1939, Modell Baujahr 1949.

Fazit

Ein Besuch der sich wirklich lohnt, da man nicht einfach vor abgesperrten Systemen und „Bitte nicht berühren“-Schildern steht sondern ganz behutsam und sehr ausführlich in die damalige Technik eingeführt wird – inklusive ausprobieren der lautstarken Objekte! Ein kleiner Tipp: die Anzahl der Besucher sollte 15 nicht überschreiten, sonst wird es recht eng. Mehr Informationen gibt es auf den Webseiten des Computermuseum Technikum29.

Epilog

Etwas Nachdenkliches am Schluss. Im Keller liegt etwas verstohlen ein Commodore CBM 8032SK. Ein Computer der im Umfeld einer fast vergessenen Computergeneration hochmodern wirkt. Obwohl er doch schon dazugehört.

Slebon Harfner

 

Vielen Dank an Dirk Vroomen für die Erlaubnis zur Verwendung einiger Bilder. Hier hat er weitere Bilder des Computermuseum Technikum29, die im Rahmen unseres Stammtischausfluges entstanden sind.

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